Ich komme aus der Küche, in der Hand eine Kanne Tee und eine Tasse, und steuere auf das Klavier zu. Ich freue mich sehr, denn alle Aufgaben sind erledigt, und ich kann mich dem widmen, was ich mit am liebsten tue: Klavier üben.

Ich stelle die Kanne auf dem Tisch neben dem Klavier ab und gieße mir eine halbe Tasse Tee ein, damit sie schon einmal abkühlen kann, während ich mich einspiele.

„Na,“ kommt die Stimme unseres Sohnes aus dem Hintergrund, „gießt du dir wieder einen Tee ein, um ihn kalt werden zu lassen?“

Ich schaue ihn überrascht an.

„Wieso? Der Tee soll doch nur schon mal etwas abkühlen, solange ich mich einspiele.“

Unser Sohn grinst wissend, und ich sehe ihm an, was er jetzt gerade denkt.

Denk du nur, denke ich, heute nicht! Denn ich habe Durst.

Ich setze mich ans Klavier und lege meine Hände auf die Tasten. Es ist ein Wiedersehen zwischen alten Bekannten. Ich spüre meine Finger auf den Tasten. Die Finger kennen sich aus, sie wissen, was sie tun sollen. Und die Tasten fühlen sich warm an und reagieren leicht und unmittelbar auf jeden Fingerdruck. Schön, wie sie ihre Klangfarbe ändern, je nachdem, was meine Finger gerade tun! Innerhalb kürzester Zeit bin ich in meine andere Welt gedriftet, umgeben von dem Sahne-Kakao-Klang unseres Instrumentes.

Die Einspielübungen sind durchlaufen. Eigentlich kann ich weitermachen, denke ich. Es läuft gerade so gut, und niemand unterbricht oder ruft an. Also weiter!

Ich fange an, das eine der beiden Stücke in Arbeit zu üben. Es ist ein Präludium und Fuge von Johann Sebastian Bach aus dem Wohltemperierten Klavier. Auch hier dauert es heute nicht lang, und ich bin in das Stück geschlüpft, in diesem Fall in das Präludium, das ich regelrecht durchwandere. Ich spüre den musikalischen Einfällen nach, die Bach verarbeitet hat. Je genauer ich hinschaue, um so mehr staune ich über die zum Teil verrückten Intervalle, die er geschrieben hat – wahrscheinlich in Verletzung aller damaligen kompositorischen Regeln. Ein Johann Sebastian Bach durfte das wahrscheinlich, denke ich. Manche der Intervalle und Akkorde klingen ziemlich jazzig und modern, finde ich. Aber sie werden natürlich nicht so weitergeführt. An einer anderen Stelle steigert sich die Melodie zu einem Höhepunkt, und danach geht es mit neuen Ideen weiter. Nicht jede Note ist gleich wichtig, stelle ich fest, auch wenn sie auf dem Papier absolut identisch aussehen. Ich probiere unterschiedliche Gewichtungen der einzelnen Töne aus – die einen etwas lauter und länger, die anderen leiser und etwas kürzer -, und auf einmal entstehen mehrere musikalische Ebenen, die sich wie einzelne Geigenstimmen umeinanderschlingen. Ich bin so fasziniert, dass ich von meiner Neuentdeckung nicht genug bekommen kann. Ich variiere und spüre den Veränderungen im Klangbild nach. Wollte der alte Bach das so haben? Ich kann es nicht sagen, denn er hatte ja ein Instrument wie meines nie zur Verfügung. Und ob mein Klavierlehrer, der viel mehr fachlichen Hintergrund hat als ich, mit meiner Interpretation einverstanden ist, muss sich noch zeigen. Aber ich spiele und freue mich an der neu entstandenen Vielschichtigkeit des Stücks, das vorher, ehrlich gesagt, in seiner Zweistimmigkeit schon etwas langweilig klang – barock halt. Und damit per se langweilig, würden die meisten sagen. Aber jetzt ist es nicht mehr nur zweistimmig, jetzt ist es vielstimmig und plötzlich sehr lebendig geworden.

Etwas zwickt mich im Nacken. Stör mich nicht, denke ich, ich bin auf Forschungsreise und habe gerade eine Super-Entdeckung gemacht!

Aber da ist das Zwicken wieder. Eine Muskelverspannung. Ich bewege meinen Kopf, um sie zu lösen, und mein Blick fällt auf die Uhr.

Die Zeiger sind um zwei Stunden vorgerückt.

Zwei Stunden – das kann nicht sein, denke ich, und schaue noch einmal ganz genau hin.

Die Zeiger sind immer noch um zwei Stunden vorgerückt.

Schlagartig bin ich wieder im Hier und Jetzt.

Ich stelle fest, dass sich das Licht im Raum verändert hat und jetzt nicht nur der Nacken, sondern auch der Rücken etwas verspannt ist.

Ich stehe auf und dehne mich.

Dann spüre ich, dass ich durstig bin, und der ganze Rest fällt mir wieder ein.

Mir wird klar, dass mein Sohn mal wieder recht hat.

Der Tee in der Tasse ist zimmerkalt, der in der Kanne auch. Er schmeckt gruselig.

Mein Vorsatz, wirklich nur Einspielübungen zu machen und dann zu trinken, ist wieder einmal  gescheitert.

Das beschert mir die Erkenntnis, dass mein Sohn ein sehr guter Beobachter ist, dass mir kalter Tee nicht besser schmeckt, egal wie oft ich schon kalten Tee getrunken habe, und dass genau dasselbe nächstes Mal wieder passieren wird.

Ich habe immer noch Durst, aber der Rest von mir ist zutiefst glücklich.