Ich habe angefangen wieder zu träumen, und Schuld daran ist meine Tante. Als sie 50 Jahre alt wurde, entschloss sie sich Klavierspielen zu lernen. Es machte ihr so viel Spaß, dass sie bis weit in ihre 70er Lebensjahre hinein aktiv spielte. Weil ich eine Zeit lang bei ihr wohnte, konnte ich diesen Prozess aus der Nähe beobachten, und er war faszinierend mitzuerleben.
Kurz zuvor hatte ich aufgehört Klavier zu spielen. Ich hatte als Jugendliche acht Jahre Unterricht, es hatte mir unglaublich viel Freude gemacht, und ich war weit gekommen. Mein damaliger Lehrer war emeritierter Professor von der Musikhochschule Düsseldorf und hatte mir vorgeschlagen, mich auf die Aufnahmeprüfung vorzubereiten. Aber ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, später als Klavierlehrerin zu arbeiten, und noch weniger konnte ich mir vorstellen, dass mein Talent für ein erfolgreiches Leben als Konzertpianistin ausreichen würde.
Also entschied ich mich, meine Neugier auf fremde Sprachen und neue Fachgebiete zum Inhalt meines Berufslebens zu machen und wurde Konferenzdolmetscherin. Zwar hatte ich den festen Vorsatz, auch weiterhin Klavier zu spielen, aber wie so oft blieb es dabei. Während des Studiums, im Ausland und als Berufsanfängerin hatte ich kein Klavier zur Verfügung, und außerdem stellte mir das Leben ganz neue Herausforderungen.
Erst mit der Familiengründung, als wir sesshaft wurden, konnte mein Klavier aus Jugendzeiten bei uns einziehen. Für mich war es allerdings sehr frustrierend zu sehen, dass alles, was ich einmal spielen konnte, nur noch in Teilen da war und längst nicht mehr meinem alten Standard entsprach, sodass ich irgendwann aufgab. Mit dem zweiten Kind war an musikalische Mußestunden nicht mehr zu denken, und unser Klavier wurde zu einem Möbelstück, dessen Existenzgrund nur noch darin bestand, hin und wieder abgestaubt zu werden.
Zwischenüberschrift
So vergingen die Jahre und Jahrzehnte, und ich näherte mich dem magischen Alter, in dem meine Tante mit dem Klavierspielen begonnen hatte. Das spornte mich an, es doch noch einmal versuchen, und ich fand an der Musik- und Kunstschule Velbert einen Klavierlehrer, der bereit war, mich zu unterrichten.
Anfangs war mir ein wenig unbehaglich zumute. Ich fühlte mich wie vor einem Schrank mit alten Dokumenten, der seit über 30 Jahre verschlossen war und den ich im Begriff war wieder zu öffnen. Vielleicht würde mir ja alles völlig ungeordnet entgegenfallen, und ich müsste erst einmal sortieren. Aber nichts dergleichen geschah. Im Gegenteil, ich fand alles wohl geordnet vor, wenn auch mit einer sehr dicken Staubschicht bedeckt.
Die Staubschicht ließ sich an vielen Stellen recht schnell entfernen, und danach eröffneten sich mir ganz neue Welten. Es gab Altes aufzupolieren und viel Neues zu entdecken, und ich fühlte mich wie ein Kind im Süßigkeitenladen, das von allem probieren darf, ohne dass jemand Verbote aussprach.
Irgendwann sprach mein Klavierlehrer von Konzerten, und vor meinem inneren Auge tauchte das Bild eines Musikschulvorspiels auf, in dem die Kleinen anfangen und dann die begabten Jugendlichen weitermachen, und am Ende spiele ich dann auch noch – im Publikum keine stolzen Großeltern, sondern die peinlich berührten, fast erwachsenen Söhne…
Nein, Konzerte würde ich auf gar keinen Fall spielen, mein Lehrer möge das bitte zur Kenntnis nehmen und mich damit in Ruhe lassen. Aber ich hatte die Rechnung ohne meine persönliche Entwicklung und die Fähigkeit meines Lehrers gemacht, ein Nein zur Grundlage eines „jetzt erst recht“ zu machen. In den folgenden eineinhalb Jahren fiel das Wort Konzert im Unterricht kein einziges Mal, aber ich merkte durchaus, dass mein Lehrer die Konzertsituation immer wieder aus verschiedenen Richtungen kommend ansprach.
Dann kamen die Chopin-Abende. Eine Dozentin der Musikschule hatte ein Lese- und Spielstück mit verteilten Rollen und viel musikalischer Untermalung über Frédéric Chopin (1810 – 1849) (ins Lexikon?) geschrieben, das nun auf die Bühne gebracht wurde. Dazu wurden nun viele Klavierschüler gesucht, die die von der Dozentin ausgesuchten, passenden Stücke von Chopin vorspielen würden.
Natürlich hatte mein Lehrer schon ein Stück für mich reserviert und präsentierte es mir eines schönen Tages – nicht direkt, sondern von hinten, durch das Knie und dann ins Herz. Es war die wunderschöne Mazurka op. op. 33 Nr. 4. Ich möge sie mir doch bitte einmal vollkommen unverbindlich anschauen, ob sie mir gefiele und ich mit ihr zurechtkäme. Ich schaute sie mir an, kam mit ihr zurecht und war gefangen von dem Stück.
Ob ich mir denn nicht eventuell doch vorstellen könne, es an den Chopin-Abenden im Herbst auf die Bühne zu bringen….? Die Frage meines Lehrers war zwar diesmal direkt formuliert und vorsichtig, aber gleichzeitig schien er recht siegesgewiss zu sein. Ich erbat Bedenkzeit, denn ich wusste, dass erst mein inneres Parlament tagen musste, und bis dort eine Entscheidung fiel, konnte es dauern.
Derweil übte ich das Stück, und die Übungsfortschritte beeinflussten wiederum den Fortgang der Parlamentssitzung (weiterer Text), so dass ich meinem Lehrer eines Tages mitteilen konnte, dass ich mich sehr freuen würde, an den Chopinabenden mitzuwirken, und dass ich bereit sei, mich auf eine Konzertvorbereitung einzulassen.
Mein Lehrer war stolz auf meine mutige Entscheidung – und wieviel Kraft und Mut (weiterer Text) mir diese Entscheidung noch abverlangen würde, konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen.
Die Chopin- Abende wurden zu einem vollen Erfolg. Mein Beitrag war natürlich nur einer unter vielen, aber ich überraschte mich selbst und das Publikum, in dem zwar keine stolzen Großeltern, dafür aber eine stolze Familie und stolze, erwachsene Söhne saßen.
Nun habe ich wieder angefangen zu träumen. Durch das Klavierspielen sind ein paar meiner Jugendträume wieder aus der Tiefe aufgetaucht, und einer ist gänzlich unerwartet in Erfüllung gegangen. Als Jugendliche hatte ich immer von einem eigenen Flügel geträumt, und nun haben wir einen – das Familienerbstück durfte bei uns einziehen (das abzustauben ist die reine Freude!).
Meine Tante hat ganz sicher nicht gewusst, was sie alles bewirken würde, als sie im Alter von 50 Jahren anfing, Klavier zu spielen.